Angekommen. Ankommen. In welcher Hinsicht?

Ankommen stellt sich manchmal als eine langwierigere Angelegenheit heraus, als man das im ersten Augenblick vielleicht vermutet. Zumindest trifft das auf mich zu. Selbst jetzt könnte ich die Frage „Bist du gut angekommen?“ oder „Hast du dich inzwischen eingelebt?“ nicht vollends mit „Ja“ beantworten. Dazu herrscht in mir noch zu viel Chaos.

Flughafen in Nairobi am 14. August
(Beryl, Chrissy, Nora, Charity)

Physisch angekommen bin ich am späten Abend des 14. Augusts. Dort haben meine Füße zum ersten Mal in meinem Leben kenianischen Boden betreten. In jener Nacht erfüllte mich ein regelrechter Wirbelsturm. Der Abschied war nicht leicht, es wurden viele Tränen vergossen und auf einmal saß ich alleine in einem Flugzeug. Umso schöner und wohliger das herzliche Willkommen am Flughafen in Nairobi. Mit strahlendem Lächeln und einem großen „Karibu“ wurden wir von Mary, der Leiterin der Organisation, die für die nächsten elf Monate auch mein Zuhause darstellen wird, und den beiden Sozialarbeiterinnen, Beryl und Charity, begrüßt. Im PLCC (Pangani Lutheran Children Centre) erwartete uns – meine Mitfreiwillige Chrissy und mich – ein kenianisches Mitternachtsmahl, bereitet von Purity, nicht nur eine der Hausmütter, sondern auch eine der herzlichsten Menschen, denen ich bis jetzt begegnen durfte. Sie führte uns bereits in die Kunst des Chapati-Kochens ein (kenianisches Fladenbrot) – einfach köstlich.

Bewusst angekommen bin ich Stück für Stück in den gedankenvollen Momenten des Alltags. Aus dem Fenster schauen während des Autofahrens; all die Menschen, die Schleppesel und Affen auf den Straßen zu erblicken; sich selbst durch den dichten Verkehr zu winden, zwischen den Autos, Matatus (Bus/ Sammeltaxi in Kenia und eines der wichtigsten Transportmittel des öffentlichen Nahverkehrs) und Bodabodas (Motorradtaxi in Ostafrika); während des Spazierens den Blick über den Nationalpark zu genießen und in der Ferne die Skyline Nairobis zu betrachten – in solchen Momenten kam der Gedanke: „Ich bin tatsächlich in Afrika. Ich stehe hier in Kenia.“

Ongata Rongai

Nun, das „seelische Ankommen“ ist wohl noch im Gange. Ich bin noch nicht fertig. Doch einige Schritte bin ich schon gegangen. Nachdem wir die ersten zwei Wochen in Nairobi verbracht hatten, um in der Language school unsere Kiswahili-Kenntnisse zu entwickeln (was mehr oder weniger funktioniert hat), ging es endlich in unser Projekt. Die Kinder haben uns vom ersten Tag an mit leuchtenden Augen aufgenommen, zeigten uns das Gelände und begegneten uns mit unvorstellbarer Wärme. Und einen Sonnenaufgang später begann bereits der erste Schultag.

Die Schüler*innen der Maalum Schule laufen zur Morning devotion in die Kirche auf dem Gelände.

Jeden Morgen findet vor dem Unterricht eine Morning devotion „Morganandacht“ statt. Rund 80 Prozent der kenianischen Bevölkerung sind dem Christentum zuzuordnen, zehn Prozent gehören dem Islam an. Als multiethnischer Staat hat Kenia über 40 verschiedene Volksgruppen und auch weitere zahlreiche Naturreligionen vorzuweisen. Auch im Unterricht oder im Gottesdienst auf dem Gelände am Sonntag ist die Bedeutung des Glaubens für die Menschen zu spüren. Er nimmt nicht nur in dieser Hinsicht einen großen Teil des Lebens ein, sondern im alltäglichen Miteinander. Nicht selten beeindrucken mich die Kinder in ihrem Verhalten. Christliche Werte werden nicht einfach nur in der Theorie besprochen, sondern ausgelebt. Wir teilen, wir helfen und trösten einander. Weint eines der Mädchen, wird es nur wenige Sekunden später von einem der anderen Kinder in den Arm genommen. Radiergummis, Stifte und Scheren werden bereitwillig für den Nachbarn zur Verfügung gestellt. Es reicht ein „Colour red“ und ein roter Stift wird von der anderen Seite des Tisches herbeigeworfen. Einfach überwältigend großartig und rührend war der Gottesdienst anlässlich des Weltkindertags, den die Kinder mit etwas Unterstützung der Hausmütter selbst gestalten durften. Eine wundervolle Erfahrung. Die Liebe und Mühe, die die Mädchen in dieses Projekt gesteckt haben, war nicht zu übersehen. Sie inszenierten Tanzaufführungen, sangen und lasen aus der Bibel vor den Gästen. Selbst die Predigt wurde von einem der Mädchen vorbereitet. Was für ein Mut – sich vor all die Menschen zu stellen und frei von seinen Gedanken und seinem Glauben zu erzählen. Dementsprechend heftig ist der Applaus ausgefallen. Jubel, Lachen, Trubel – die Kirche war erfüllt von Euphorie.

Gottesdienst Weltkindertag

In der Schule assistiere ich in der ersten Hälfte des Tages Teacher Esther, die Lehrerin der Kleinsten, beim Unterricht und der Unterrichtsvorbereitung. Abends geht es zu den Mädchen, die im PLCC wohnen, um sie bei den Hausaufgaben zu unterstützen. Es sind Tätigkeiten, in die ich mich erst reinfuchsen musste, doch mit etwas Zeit und einer Prise Eigeninitiative entdeckte ich Aufgaben, die ich in der Schule übernehmen, oder Stellen, an denen ich mich gut einbringen konnte. So wurde es schnell ein Nehmen und Geben; einerseits Bastelprojekte mit den Kindern leiten, Materialien kreieren oder bewegungsreiche Spieleinheiten draußen integrieren, andererseits von den Lehrkräften Neues lernen (besonders, was die Kompetenz betrifft, die Aufmerksamkeit von einem Dutzend Kinder zu fesseln) und von den Kindern Finger-Fadenspiele beigebracht zu bekommen. Allein durch Zuhören und Zusehen nehme ich von meinen Mitmenschen allerlei mit.

Spiel in der Schule: Mit verbundenen Augen einem Schnur-Pfad folgen


Die liebevolle und herzliche Weise der Menschen hier, ob die der Hausmütter, der Lehrkräfte oder der Kinder – sie ist eine unfassbare Hilfe, um hier Fuß zu fassen und diesen Ort mit Geduld und Spucke zu einem Zuhause zu gestalten. Besonders am Abend bei den Mädchen entstehen oft ganz unerwartet Momente gegenseitiger Zuneigung, wenn Hausaufgaben erledigt sind oder für zehn Minuten beiseite geschoben werden. Singen, Tanzen, auf dem Sofa beisammen liegen und der Musik lauschen. Sie bringen mich zum Lachen und lehren mich, wahrhaftige Freude zu empfinden und, dass Radiergummis wirklich lebenswichtig sind. Zu Beginn war es gar nicht so einfach, die Individuen hinter dem Trubel der Truppe zu erkennen. Mit der Zeit zeigen sich jedoch die ganz eigenen Facetten und einzigartigen Charakteristika der Mädchen. Das eine ist vernarrt in Mathematik und Wissenschaften, das andere kann fantastisch zeichnen. Wieder ein anderes hat es faustdick hinter den Ohren und stellt das offen durch ein freches Grinsen zur Schau. Da ist ein Mädchen, das es liebt, Quatsch zu machen, das vergnügt glucksend durch das Haus rennt, während das andere eine sanfte Seele in sich ruhen hat und die Stille genießt.

Außerhalb des PLCC haben wir ebenso die Chance ergriffen, Erinnerungen zu schaffen. So zum Beispiel durch unseren Ausflug auf die Ngong Hills, eine Hügelkette im Rift Valley südöstlich von Nairobi. „Ngong“ bedeutet so viel wie „Knöchel“ nach der Sprache der Massai und ist auf die charakteristische Silhouette der Gipfel der Hügelkette zurückzuführen. Erinnerungen einer sagenhaften Landschaft und einem unbegreiflichen Blick über die Weite. Möglich gemacht wurde uns dieses kostbare Erlebnis durch eine beeindruckende Frau; Jerusa. Jerusa organisiert nicht nur Trips und setzt diese um, sie ist erfinderisch und ehrgeizig, um das Geld für den Lebensunterhalt und das Schulgeld für ihren Sohn herbeizuschaffen. Ob Catering, Online-Verkauf von Kleidung, Umsetzung von Ausflügen oder private Workouts – die alleinerziehende Mutter ist kreativ und packt ihre Ideen pragmatisch und rational an. Jerusa ist einer der vielen Menschen, bei denen ich zutiefst dankbar bin, ihnen begegnet sein zu dürfen. Jene Kontakte zu den unterschiedlichsten Menschen sind es, die mich inspirieren und bewundern lassen.

Wanderung auf den Ngong Hills (Jerusa, Chrissy)

Nichtsdestotrotz stolpert man auch über das Ungewohnte und wird von all den neuen Eindrücken schlicht überwältigt – ich wurde nicht vom Kulturschock verschont. Wiederum kann ich mich inzwischen kaum noch daran erinnern, wie es gewesen ist, als all die Normalitäten hier für mich noch keine solchen waren. Der Mensch gewöhnt sich schnell an sein Umfeld und ich spüre schon jetzt, dass mir nach meiner Rückkehr nach Deutschland vieles fremd vorkommen wird. Innerhalb unserer ersten Woche im PLCC mussten wir auf die praktische Weise lernen, dass unsere Tür zugeschlossen werden sollte; eine Horde Affen war überraschend zu Besuch und stibitzte uns die Bananen vom Küchentisch. Bei den Schurken handelt es sich um Trockennasenaffen der Gattung Chlorocebus. Sie sind bekannt für ihren Mangel an Anstand, Manieren und ihren Heißhunger, den sie auch an Feldern von Dörfern auslassen.

Ongata Rongai (grüne Meerkatze)

Es wäre jedoch gelogen, würde ich behaupten, es gebe keine Herausforderungen. In die Fremde gehen, fremd sein, sich fremd fühlen. Kleinigkeiten verwandeln sich in Hürden, die überwunden werden müssen; die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel oder der erste Markteinkauf. Kleinigkeiten, die man zuvor als selbstverständlich wahrgenommen hat, erweisen sich hier als Einschränkungen, mit denen ein Umgang gefunden werden muss; nach Einbruch der Dunkelheit zu Fuß hinauszugehen, entpuppt sich mit dem Gedanken an die wilden Tiere, die als Bewohner des Nationalparks unsere Nachbarn sind, als keine gute Idee. Dunkel wird es jedoch bereits zwischen 18 und 19 Uhr. Es sind also Wege zu suchen, mit den hier gegebenen Möglichkeiten zu hantieren und zu werkeln. Und sie sind auch zu finden. Es braucht lediglich Zeit. Umso leichter ist das Gefühl, wenn Hürden überwunden, Grenzen überschritten wurden. Noch nie konnte ich eine Entwicklung der Situation und eine Veränderung meiner selbst derart detailliert beobachten. Jeder Schritt ist deutlich zu spüren, jeder Schritt lässt mich selbstständiger und mutiger werden. Ein schönes Gefühl, dieses Wachsen.

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